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Die Chronik der Anna Magdalena Bach

Ausgangspunkt für unsere Chronik der Anna Magdalena Bach war die Idee, einen Film zu versuchen, in dem man Musik nicht als Begleitung, auch nicht als Kommentar, sondern als ästhetische Materie benutzt. Ich hatte keine wirklichen Vorbilder. Nur vielleicht als Parallele: was Bresson in „Das Tagebuch eines Landpfarrers“ mit einem literarischen Text gemacht hat. Konkret, könnte man sagen, wollten wir versuchen, Musik auf die Leinwand zu bringen, den Leuten, die ins Kino gehen, einmal Musik zu zeigen. Parallel mit diesem Aspekt ging der Wunsch, eine Liebesgeschichte zu zeigen, wie man sie noch nicht kennt. Eine Frau erzählt von ihrem Mann, den sie geliebt hat, bis zu dessen Tode. Da ist zunächst die Geschichte. Die Frau steht da und kann weiter nichts tun als dazusein für den Mann, den sie liebt, egal, was ihm passiert und welche Schwierigkeiten er hat. Sie erzählt, wieviele Kinder sie gehabt haben sie haben dreizehn Kinder zusammen bekommen , was aus ihnen geworden ist, wieviele gestorben sind und so weiter. Also da ist zunächst ihre Geschichte; dann fixiert ihr Bericht aber auch einen Außenpunkt. Man kann keine Biografie schreiben, keine Kinemato-Biografie, ohne daß man einen Außenpunkt hat, und dieser Außenpunkt ist eben das Bewusstsein der Anna Magdalena.Jean-Marie Straub

Die Chronik spricht über den täglichen Kampf des Komponisten Bach um seine Arbeit, sein Brot, seine Familie. Menschen bei der Arbeit, beim Singen, beim Nähen. Der Film macht musikalische Materie sichtbar und hörbar, Geschichte spürbar und begreifbar, nicht durch Rekonstruktion, sondern durch Konstruktion, indem er Texte, Körper, Räume in Schwingung versetzt und in Kollision bringt. Die Chronik ist ein materialistischer, mystischer und revolutionärer Film. Viennale Film

Vom Brandenburgischen Konzert No. 5, Allegro 1, Takte 147-227, bis zum ersten Teil des Chorals BWV 668 "Von Deinen Thron tret' ich" werden 25 Musikstücke in Auszügen, jedoch stets als geschlossene musikalische Sätze, vorgetragen. Zwischen diesen Zeugnissen der Arbeit Bach berichtet seine zweite Frau Anna Magdalena, die er 1721 heiratete und mit der er in sehr glücklicher Ehe bis zu seinem Tode 1748 lebte, über den Lebensweg ihres Mannes. Vom Platzes des Kapellmeisters in Cöthen bis zu seinem "sanften und seligen" Hinscheiden. Anna Magdalena hat in Wirklichkeit kein Tagebuch hinterlassen. Die in den zwanziger Jahren von der Engländerin Esther Meynell veröffentlichte "Kleine Chronik der Anna Magdalena Bach" ist ebenso eine Kompilation wie der von Jean-Marie Straub zusammengestellte Text. Das Buch der Engländerin, das in Deutschland Erfolg hatte, regte wohl den Titel des Films an.
Es gibt verschiedene Wege, um Bach im Film darzustellen. Straub ging es nicht um die Biographie oder die Lebenskämpfe Bachs. Bach ist für ihn Musik, und diese Musik wollte er im Film darstellen.
Im Bach-Film geht es Straub erst in zweiter Linie um Bachs Leben (und auch das nur teilweise, denn die Erzählung stammt von Bachs zweiter Frau Anna Magdalena, die er 1721 heiratete, so dass der Bericht nur etwa die letzten 25 Jahre seines Lebens umfasst). Straub gibt Musik wieder und damit verlässt er den Weg der üblichen Künstlerbiographie. Die extrem lang andauernden Kameraeinstellungen, mit denen auf den Musizierenden verharrt wird, kommen nicht von ungefähr und sie ermüden nicht von ungefähr: Musik, ernst verstanden, beansprucht den Zuschauer. Sie ist nicht konsumierbar. Nach Straub soll die Musik im Film nicht Begleitung oder Kommentar, sondern ästhetische Materie sein. Musik sichtbar zu machen bedeutet hier, sie zu dokumentieren; in ihrem zeitlichen Kontext (Kostümierung der Spieler), im biographischen Kontext (Lebensbericht der Anna Magdalena), im musikalischen Kontext (es werden nur geschlossene musikalische Sätze vorgetragen). Freilich hat Straub auf eine andere Möglichkeit, Musik darzustellen, verzichtet. Er filmt nur die Musikausübenden (glücklicherweise ohne die billige Dramatik üblicher Musikfilme im Kino oder Fernsehen, bei der mit Großaufnahmen und eilig herumfahrender Kamera Musik visualisiert werden soll), verzichtet also darauf, einen anderen Hintergrund für die Musik zu geben. Nur ein paar Mal setzen in diesem Zusammenhang eher beziehungslose Bilder vom Meeresstrand den Abschluss von Musikstücken. Durch diese Beschränkung des optischen Materials kommt Straub zu einer außerordentlichen Einheitlichkeit des Films, mancher wird sagen, zu einer Uniformität. Gerade der optische wie musikalische Gleichklang ermüdet den Zuschauer, der nicht auf das Konzentrierteste dem Text folgt. Und wer tut das schon?
Das Argument dürfte Straub nicht stören. Bachs Werk soll unsere volle Aufmerksamkeit beanspruchen. Straubs gelegentlich störrische Eigensinnigkeit tut ihr übriges, um diese Chronik zu einem letzen Endes doch esoterischen Werk zu machen. Sein Eigensinn trifft, solange er uns einen unbekannten Bach zeigt und ein Musikerbild von gesellschaftlicher Relevanz entwirft. Denn üblicherweise gilt Bach als der voller Gottvertrauen schaffende, angesehene Thomaskantor. Dass er in Wirklichkeit Schwierigkeiten mit dem Rat der Stadt hatte (die teilweise auf ihn zurückgehen), pflegt man zu übergehen. In Straubs Text, der aus zeitgenössischem Material montiert ist, wird das deutlich. Seine dezidierte politische Stellungnahme wird noch deutlicher bei Bachs Reise nach Potsdam. Hier setzt Straub zu einem Ricercar aus dem "Musikalischen Opfer" Schwarzfilm ein, sicherlich keine Ratlosigkeit vor Friedrich dem Großen!
Dagegen steht man kritischer Straub gegenüber, wenn er glaubt, dass dieser Film für den Nichtintellektuelen (denn diesem gilt Straubs Liebe, und schon seinen ersten Langspielfilm NICHT VERSÖHNT verglich er mit einem Wildwestfilm) attraktiv sein könnte. Die außerordentliche Intelligenz Straubs und sein Musikverständnis machen aus der "Chronik" eben doch einen Film für Kenner, die zwar die Aufnahmequalität der Musik gelegentlich kritisieren, aber die Kunst der Fuge bewundern, mit der Straub ein sehr ernsthaftes Puzzlespiel zur Rekonstituierung einer großen Musik und ihres Schöpfers betreibt. Zentralarchiv (Goethe-Institut)

The Chronicle of Anna Magdalena Bach is Jean-Marie Straub and Danièle Huillet's version of film biography. The film presents biography as the rewriting and juxtaposition of prior documents; in this instance music and a chronicle are most prominent. Defined in this way, through a range of documents, Bach does not emerge as a conventional dramatic character. The importance of music in the film, which was performed and recorded during the filming rather than dubbed, stresses its centrality to the contemporary knowledge and appreciation of the historical figure Bach. In fact, Straub has said that the music was considered the basic raw material of the film, and not simply background accompaniment. Personal aspects of the composer's life are presented, along with the musical performance, through the agency of a diary. A voice-over narration, purportedly reciting the text of Anna Magdalena's journal, provides information about financial and familial affairs in a matterof-fact monotone. No such chronicle really exists, and the narration was constructed from various sources including letters written by and to Bach. However the actual status of the spoken text is less important than its effect in the film as a document.
Through the use of these prior texts as its basic structuring principle, the film constructs a biographical portrait while asserting its distance from its subject. In line with this approach, the film refuses to engage the viewer emotionally in its characters as psychologized individuals. To undermine any sense of realistic depiction, the actors are dressed in period costumes but do not visibly age in the course of the film. The film as a whole is visually austere and verbally reticent, and the music stands as the major mechanism of viewer involvement. The actors rarely speak and the narration is void of emotional sentiment. This "silence" is expressed in several visual pauses punctuating the film; two shots of the sea, one of the sky, and one of a tree intervene in the course of the film. These images serve as moments of meditation. Removed from the musical, familial, and financial concerns developed in the narrative, they offer the possibility to speculate on, among other things, the relation of these images to the filmic depiction of Bach's life; the relationship of nature to social and cultural life; and the nature of cinema. With regard to the latter, Straub is known for quoting D. W. Griffith: "What the modern movies lack is the wind in the trees." The framing and lighting convey an almost academic sense of beauty, a calculatingly striking surface that denies the depth of space or character. While many of the images involve composition-in-depth, they are often so extreme and self-conscious that their status as artificial constructions—through the conjunction of set construction, lens choice, and character placement—is obvious. In addition, various camera and lens movements frequently manipulate and shift apparent depth within the course of such shots. The formal contrast and counterpoint guiding the editing are often seen as the visual counterpart of the structure of Bach's music. However, this approach to editing, insisting on the process of spatial construction, is characteristic of Straub and Huillet's films. It is a way of underscoring the artificiality of the film's visual world. M. B. White

Literatur:
Books:

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Articles:

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 Roud, Richard, in Sight and Sound (London), Summer 1968.
 Polt, Harriet, in Film Quarterly (Berkeley), Winter 1968–69.
 Baxter, B., "Jean-Marie Straub," in Film (London), Spring 1969.
 Engel, Andi, "Jean-Marie Straub," in Second Wave, New York, 1970.

 Chronik der Anna Magdalena Bach, Monthly Film Bulletin (London), May 1970.
 Armes, Roy, "Jean-Marie Straub," in London Magazine, Septem-ber 1970.
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 Walsh, M., "Political Formations in the Cinema of Jean-Marie Straub," in Jump Cut (Chicago), November-December 1974.
 Seguin, L., "La Famille, l'histoire, le roman," in Cahiers du Cinéma (Paris), October-November 1975.
 Greene, N., "Report from Vienna: Cinema and Ideology," in Praxis (Berkeley), no. 2, 1976.
 "Danièle Huillet/Jean-Marie Straub's Fortini/Cani,"in Filmkritik (Munich), January 1977.
 Dermody, S., "Straub/Huillet: The Politics of Film Practice," in Cinema Papers (Melbourne), September-October 1976.
 Simsolo, Noël, "Jean-Marie Straub et Danièle Huillet," in Cinéma (Paris), March 1977.
 Grant, J., "Le Combat contre l'impression," in Cinéma (Paris), January 1978.
 Nau, P., "Die Kunst des Filmesehens," in Filmkritik (Munich), January 1979.
 Listener (London), 27 June 1985.
 Vatrican, V., "Tout est musique," in Cahiers du Cinéma (Paris), no. 492, June 1995.
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