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Grundlagen

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GaddisRomane

Kurzbiografie

Werke:

Die Fälschung der Welt JR Die Erlöser Letzte Instanz Das mechanische Klavier

(Text von Jan Karsten, Fußnoten von mir)

Zwei Krankenschwestern unterhalten sich. Sagt die eine: Schon gesehen, der auf Zimmer dreizehn hat das Wort Rumbalotte auf seinem Johannes tätowiert. Sagt die andere: Quatsch Rumbalotte, es heißt Ruhm und Ehre der baltischen Flotte. (Aus: The Recognitions)

Ja, die Details des Lebens können einem schnell entgehen, ein jedes Ding hat viele Perspektiven. William Gaddis Romane zum Beispiel: Meisterwerke der Vielschichtigkeit, allesamt noch immer unterschätzte Meilensteine der amerikanischen Literatur. Allerdings hat er auch nur fünf Bücher geschrieben, sein letztes ist nun gerade auf Deutsch erschienen.

WILLIAM GADDIS: A VISION OF DISORDER

Das mechanische Klavier

Gaddis beendete Das mechanische Klavier kurz bevor er 1998 nach schwerer Krankheit starb, und das Buch spiegelt seine eigene Situation: Um den Erzähler herum häufen sich Notizen, Bücher, Exzerpte, Zeitungsausschnitte, verzweifelt versucht er ein letztes Buch zu schreiben, während er langsam stirbt: Meine Lungenfunktion ist schon so gut wie nicht mehr vorhanden, von meinem Bein ganz zu schweigen, Metastasen im Knochenmark: Ich bin gewissermaßen von Kopf bis Fuß auf Abriss eingestellt, ein Wrack.

Gaddis großes Thema ist die Entfremdung des Menschen von sich selbst, der Verlust der Authentizität in einer zersplitternden Welt. Er versucht den letzten Stand der Dinge zu erfassen, indem er weit zurückgeht. Das mechanische Klavier ist ein letztes intensives Ringen mit den Dämonen der fragmentarischen Wirklichkeit, die ihn von Beginn an bedrängten. Das Buch, das Gaddis und sein Erzähler zu Ende bringen möchten, handelt von der Mechanisierung der Künste und dem damit verbundenen Verlust der Autonomie des individuellen Künstlers. Seit den 40er Jahren arbeitete Gaddis an einer Geschichte der Mechanisierung, von automatischen Vögeln über den Computer, dieser Schutzwall für das Unbestimmte, bis zum Klonschaf Dolly. Zum Sinnbild für die zunehmende Automatisierung der gesamten Welt wird das Mechanische Klavier, das Anfang des Jahrhunderts weit verbreitet war und seinem Besitzer ermöglichte, mittels gestanzter Papierrollen die Werke der großen Komponisten jederzeit selbst abspielen zu können. Diese Welte-Mignons, Duo-Art Pianolas, Ampico und wie sie alle hießen, sie standen bald überall, stanzten das Vergängliche in einen Lochstreifen, stampften den flüchtigen Augenblick, der ja gerade das Wesen des Authentischen ausmacht, stampften ihn fest, so fest, dass er sich nie wieder rühren konnte.

Gaddis beobachtet angeekelt die Mechanisierung alles Menschlichen, den Wunsch der Leute nach zerstreuender Unterhaltung und billiger Befriedigung, ihre Bereitschaft, die Reproduktion als Original zu akzeptieren, die Imitation dem ursprünglichen Ding vorzuziehen.

Am Ende seines Lebens schreibt Gaddis dann doch nicht mehr das geplante Sachbuch, sondern dramatisiert den Prozess des Schreibens selber in einem leidenschaftlichen Wutausbruch gegen die moderne Gesellschaft, gegen die hirnlose, verblödete Masse, das verstunkene Prollfolk, das sowieso nichts mehr versteht, längst taub vom Lärm der Fabrikhallen und das sich zufrieden gibt mit einfachen Antworten, zu einfachen Antworten auf die Vielfältigkeit der Kodes und Deutungsrahmen des Daseins. Gaddis schaut voller Bitterkeit und Verachtung auf den unaufhaltsamen Zerfall der Welt, den Kollaps von Sprache und Bedeutung, den Niedergang der Werte, das Verschwinden der Kunst. Wo man auch hinschaut, überall Unordnung und Zersetzung, der Pesthauch der Entropie, nimm was du willst, Unterhaltungsindustrie und Technologie ...

Trotzdem, und gerade deshalb, versucht der elitäre Erzähler bis zum letzten Atemzug Ordnung in seine Gedanken zu bringen, Ordnung in die ganze verdammte chaotische Welt. Um sein Bett herum in hohen Stapeln seine Aufzeichnungen und die Bücher der großen Geister, die die Fackel weitertragen. Immer wieder greift der Erzähler in den Stapel hinein, zitiert, erklärt, verbindet. In der Zwiesprache mit Schriftstellern und Philosophen, mit Jung, Benjamin, Dostojewski und Bernhard sucht er nach Unterstützung für seine Anklage gegen das gedankenlose, vergnügungssüchtige Gesindel, gegen den Sumpf aus Chaos und Zufall. Geschickt verwebt Gaddis viele fremde Stimmen zu einem Plädoyer für die Authentizität in der Kunst. Doch die Entropie ist zu stark, die Gedankenkonstrukte zu wackelig: die Bücherstapel stürzen ein und begraben den sterbenden Autor unter sich, jede Argumentation zerbricht:

Augenblick mal, jetzt merke ich erst ... das wollte ich ja gar nicht ... so zerbröselt mir ja meine schöne ... schöne These. Jetzt weiß ich nicht mal mehr, was ich sagen wollte, kann mich an nichts mehr erinnern, kann mich nicht mal daran erinnern, an was ich mich erinnern wollte. Irgendwas mit Mnemotechnik ...

Es bleibt Gaddis' Wut die Wut angesichts eines leeren Universums, einer Existenz, deren Sinn sich nicht fassen lässt, denn der harte Kern, dort, wo das Werk vollbracht wird, ist Zorn, ist reine Energie, schiere Spannung, knapp an der Grenze zum Wahnsinn, die einzige Realität, die einzige Zuflucht vor der entgrenzten Halluzination, die alles ist in der Außenwelt, mich eingeschlossen, alles da draußen nur ein Teil des da draußen, wo alles allem gleicht. Und es bleibt Gaddis einsame Stimme, die fragt: Hörst du mich noch?

Die Fälschung der Welt

Das letzte Unterkapitel (S.1169) hat als Motto: Aux Clients Reconnus Malades l'ARGENT ne sera pas Remboursé - Hinweisschild in einem Bodell auf der Rue de l'Aqueduct, Oran

Back in time: 1955 veröffentlichte Gaddis sein erstes Buch, The Recognitions (Die Fälschung der Welt). Er war 33 und ziemlich sicher, dass er gehört werden würde. Gaddis erwartete, die Welt auf den Kopf zu stellen, oder doch zumindest den Literaturnobelpreis, aber sein gewaltiger Erstling wurde ein gewaltiger Misserfolg, von der Kritik einstimmig und böse zerrissen. Er ist:

appaling, awkward, arrogant, no work of art, confused&confusing, cruel, a literary curiosity, dont buy it its debasing, demoralizing, diabolic dull difficult, dreary disgusting, exasperating, incoherent, murky muddy monstrous, nihilistic obscene & obscure, profane & pretentious, sneering-snarling-sprawling-squaling kurz: a fatuous foul-mouthed formless failure!

Jack Green Fire the Bastards

Erst viele Jahre später wurde die Bedeutung des Romans als missing link zwischen den hochmodernen Schriftstellern Joyce, Faulkner, Elliot und den postmodernen Schreibern wie DeLillo oder Pynchon erkannt. Gaddis wurde berühmt dafür, nicht berühmt genug zu sein, aber sein Buch blieb so gut wie ungelesen. Und das ist auch kein Wunder, handelt es sich doch um eines der komplexesten und schwierigsten Werke überhaupt. Gaddis verbindet die moderne Technik des vielstimmigen Erzählens voller literarischer Anspielungen mit etwas, das später als Postmodernismus identifiziert werden würde: dem Bewusstsein von der Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit der Realität und des Subjekts zu einem schwindelerregenden letzten Meisterwerk: Über 50 Charaktere Maler, Schriftsteller, Dramatiker, Prediger, Komponist, Geldfälscher, Geschäftsmänner, Agenten auf mehr als 1200 Seiten; unterschiedlichste Erzählperspektiven und Sprachstile; drei Kontinente und drei Dekaden; ein halbes Dutzend Sprachen; viertausend Jahre Kulturgeschichte: Mythologie, Anthropologie, Astronomie, Alchemie, Hagiographie, Mumifizierung, Fälscherei, Metaphysik, Zauberei, Medizin, Religion, Kunst, Literatur, und manchmal ist die Anhäufung nicht zu ertragen.Die Fälschung der Welt ist so viel Roman in einem: Sozialsatire, Pilger-, Kriminal-, Künstler- und vor allem Bildungsroman. All das nicht präsentiert von einem wohlmeinenden Erzähler, sondern kompliziert ineinander gewoben, konzentriert, komprimiert, verzerrt in Monologen und Konversationen, scheinbar ungeordnet, roh, überwältigend. Die kunstvolle Komposition erkennt man erst auf den zweiten Blick.

Im Mittelpunkt der vielen ineinander geschnittenen Erzählstränge steht Wyatt Gordon, Sohn eines Geistlichen und leidenschaftlicher Maler, ein Junge, mutterseelenallein und schrecklich böse auf die dummen Leute. Wyatt sehnt sich nach Sinn, die Kunst ist das Medium, durch das er versucht der vielschichtigen Wirklichkeit eine Bedeutung abzuringen. Als seine eigenen Werke abgelehnt werden, beginnt er, im Stil der Alten Meister zu malen, die damals, wie er jetzt, nur erfolgreicher, auf der Suche waren nach Schönheit und Ordnung:

... doch die Angst und die Ernüchternden Details der Gegenwart verkleisterten die letzten Reste einer tieferen Wahrheit, und so verzweifelt er sich auch daran klammerte, das Einzigartige, Schöne und Wahre im Innern deckte sich von Strich zu Strich weniger mit der zweiten, gemeinen und verlogenen Schicht, die darüber entstand und sich wie zum Hohn als einzig wahrer Kern entpuppte. Einen Moment lang glaubte er tatsächlich, einen Zipfel der verlorenen Authentizität habhaft zu werden, aber der Moment entglitt ihm wie alles andere auch. Es ist nur ... Scheiße Esme, ich weiß doch auch nicht ... Bitte schimpf mich nicht an.

Wyatts Nachahmungen fallen in die Hände von gierigen Geschäftsleuten, die sie als bisher unentdeckte Originale der Alten Meister verkaufen. Die Produkte des Malermeisters Wahrheitssuche werden zu profitablen Fälschungen, die Fälschung zur zentralen Metapher für die Falschheit der Welt, in der es nichts Echtes mehr gibt. Täuschung, Betrug und Schwindel überall: In Religion, Wissenschaft, Kunst und Sexualität. Was bleibt ist umfassende Entfremdung, da heißt es über eine der Figuren lapidar: Womit seine Rolle im Daseinskampf hinlänglich beschrieben wäre: die Kopie einer Kopie einer Kopie eines Originals, das nie existiert hat. Aber Wyatt forscht trotzig weiter Das Original gab es, es muß eins gegeben haben nach einem kurzen Moment der Authentizität und sei es nur, um immer wieder zu scheitern.

Das wird auch an der Ersten Duineser Elegie durchgespielt.

(In dem Buch gibt es eine wunderbare Beschreibung des (Geistes-)Zustandes eines durchschnittlichen Amerikaners (Mr.Pivner, S.662ff).

Doch Gaddis überbordendes Werk lässt sich unmöglich auf eine einzige Metapher reduzieren. Zu vielschichtig ist die Gedankenfülle, zu komplex die philosophischen Ideen. Es ist ein Buch über nichts weniger als alles, voller Wiedererkennungen so die Ãœbersetzung von Recognitions , Zitaten, Zusammenfassungen, Echos, Anspielungen aus allen Epochen der griechisch-römisch-christlichen Ãœberlieferung. Viele der übersteigerten Szenen, der absurden Situationen haben ihre Vorbilder in der Weltliteratur, bei Aristoteles, Goethe oder T. S. Eliot, ja in den Figuren selbst spiegeln sich die Helden diverser Bücher von Orpheus bis Faust. Es sind nachgeahmte Kunst-Stimmen, in denen Gaddis mit glanzvoller Detailfreudigkeit von den Fallstricken der gefälschten Welt erzählt.

Dabei ist Gaddis Meta-Fiktion sehr unterhaltsam und sein schwarzer Humor wirklich komisch. In einem linguistischen Feuerwerk erscheint die gesamte Bandbreite der Sprachmöglichkeiten, von der naturalistischen Schilderung des Molochs New York bis zum gewaltigen stream-of-consciousness/cut-up-Monolog des halluzinierenden Wyatt: Zwei Brüste wohnen ach in meiner Seele. Es sind sozusagen Achtung! die Brüste von Moderne und Postmoderne, die Gaddis hier durch Wyatt Gwyons Pinsel mit spiegelndem Öl bestreicht, in seinem Buch über die Unwahrscheinlichkeit von Originalität in einem fragmentarischen Universum.

Teil 2:

WHAT AMERICA IS ALL ABOUT

JR

Gaddis ist tief getroffen von der vernichtenden Reaktion auf seinen ambitionierten Erstling. Zwanzig Jahre lang arbeitet er als Redenschreiber für Wirtschaft und Politik, bis er schließlich diese Erfahrungen für einen nächsten großen Wurf nutzt, den Roman JR (1975). Aus der Telefonzelle vor seiner Schule spekuliert sich der elfjährige J. R. Vasant einen gigantischen Konzern zusammen. Als dieses Papierimperium aus Briefkastenfirmen, Junk Bonds und Termingeschäften schließlich kollabiert, reißt es sämtliche beteiligten Personen mit sich in den Abgrund.

Das Buch wurde von der Presse sehr viel positiver begrüßt, Gaddis gewann damit sogar den national book award. Allerdings wurde JR ebenfalls wenig gelesen, der Grund war wohl wieder die irritierende, in ihrer Konsequenz beispiellose Form: 1000 Seiten Kommunikationsgeflirre, ohne einen einzigen Absatz; eine überbordende Collage aus Konversationen, Telefongesprächen, Zeitungsartikeln, Radio- und Fernsehstimmen. Doch die Verständigung gelingt fasst nie, Missverständnisse häufen sich, die Kommunikation läuft Amok. Der gewaltige Redestrom zermalmt fasst jeden Sinn, parallel zu J. R.s Imperium kollabiert auch die Sprache, es bleibt weißes Rauschen, Gedröhne, das direkt aus einer Art irdischer Vorhölle zu uns heraufzuschallen scheint.

Gaddis nimmt in seiner Satire auf das Big-Business den entfesselten Kapitalismus der Reagen-Ära vorweg, in der alle Werte zum ökonomischen Gegenwert geworden sind, und Geld vom Tauschgegenstand zum Fetisch. Geld wird zur zentralen Metapher des Romans: Das gesamte Leben aller Figuren wird vom Geld bestimmt: der Sorge ums Geld, der Gier nach Geld. Gleich der erste Satz beschreibt diese umfassende Beeinflussung: Geld ... mit einer Stimme die raschelte. Wie Geldscheine, die Triebkraft der Entropie: Money has become the barometer of disorder. Gaddis Romane sind die literarische Illustration von physikalischer Entropie: Ordnung ist lediglich ein dünner, gefährdeter Zustand, den wir der grundsätzlichen Wirklichkeit des Chaos überstülpen. Ob Wirtschaft, Religion, Kunst oder Juristerei, Gaddis seziert detailliert die großen Bereiche der menschlichen Besessenheiten.

Der Erlöser

Ich habe versucht Fragen zu stellen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt, sagt Gaddis über sein drittes Buch, Die Erlöser, eine virtuose Demonstration in Metafiktion. Carpenters Gothic, so der Originaltitel, ist gleichzeitig die Bezeichnung für einen Baustil, dessen Beschreibung aus dem Buch auch für das Buch selbst gilt: Ein Flickwerk aus Selbstüberschätzung, Anleihen und Spiegelfechtereien, ein Patchwork der verschiedensten literarischen Genres: Gothic novel, Romanze, griechische Tragödie, Sozialsatire, Politthriller, Kolonialroman, dokumentarischer Realismus, eine literarische Schnitzeljagd aus Versatzstücken der Weltliteratur von Shakespeare über die Bibel bis Charlotte Brontë. Paul, eine der Hauptfiguren, fordert uns auf, das Puzzle zu lösen, herauszufinden, wie diese ganzen verdammten Teile zusammenpassen. Doch auch er erkennt einige Seiten später das Problem: Da sind zu viele verdammte Einzelteile. Egal, wie man die literarischen Fragmente zusammensetzt, am Ende bleiben immer einige Stücke übrig. Ohne erklärenden Erzähler, ohne einen erhöhten Punkt, von dem aus die Handlung zu überblicken wäre, ist der Leser hilflos den Sichtweisen der Charaktere ausgeliefert, die allesamt glauben, ihre beschränkte Interpretation der Geschehnisse sei die einzig richtige. Eine stimmige Interpretation der Geschichte ist so unmöglich.

Einiges, immerhin, lässt sich rekonstruieren: Der Roman beschreibt die letzten Wochen im Leben der Elizabeth Booth. Sie und ihr Ehemann Paul haben ein Haus von dem mysteriösen Ex-CIA-Mann McCandless gemietet. Paul arbeitet als Medienberater für den evangelischen Demagogen Ude und hilft ihm, den Unfalltod eines kleinen Jungen bei einer Massentaufe im Fluss in ein Gewinn bringendes Wunder umzudeuten. Eines der Zimmer im Haus bleibt Paul und Elizabeth verschlossen. Dort bewahrt McCandless seine Papiere und Aufzeichnungen auf. Nur hin und wieder kommt der Hausherr vorbei, um in dem zugesperrten Raum zu arbeiten.

Geschickt spielt Gaddis mit den Klischees der american gothic: das einsame Haus, die bedrohte Jungfrau, der seltsame Fremde, der verschlossene Raum. Während der Abwesenheit Pauls beginnen Elizabeth und McCandless eine Affäre. Bruchstückhaft erfährt der Leser durch die Gespräche der Figuren langsam mehr über die zunehmende Verstrickung aller Beteiligten in Reverend Udes korrupte religiöse und politische Machenschaften. Die unheilvolle, klaustrophobische Kulisse des einsamen Hauses benutzt Gaddis, um darin einen weiteren Schrecken zu spiegeln: die zerstörerische Kraft des religiösen Fundamentalismus in Amerika. Der carpenters son Jesus sprach nie von Absolutem, seine Nachfolger dafür umso mehr. Gaddis beschreibt, wie absolutes Denken zu Imperialismus, Fremdenfeindlichkeit und entfesseltem mörderischen Kapitalismus führt, der alles unter sich zermalmt: Am Ende ist Paul ein Mörder, Elizabeth tot, McCandless wahnsinnig. Gaddis apokalyptischer Roman ist die tiefschwarze Vision einer Unordnung, die über alles hinausging, was je ein Mann hätte in Ordnung bringen können.

Immer wieder verspottet Gaddis die Anstrengung des Lesers, Widersprüche aufzuklären, das Puzzle zu ordnen. Ein ständiger Refrain sind die Entschuldigungen der Figuren: Störe ich, Tut mir leid, dass ich gestört habe, wo Gaddis doch gerade dies wollte: verstören. Am Ende spricht Paul mit den Polizisten, die Elizabeths Tod untersuchen, und Gaddis spricht mit uns: ... suchen sie nach Indizien Indizien für was ... Er trat zur Seite fragen sie mich nicht, ja was zum Teufel da drin ist, fragen sie mich nicht ... Der Wissenschaftler Marcus Ingendaay weiß es aber natürlich ganz genau: Der Roman ist ein Haus der Fiktionen, dessen letztes Zimmer für den Leser verschlossen bleibt.

Letzte Instanz

Gaddis dritter großer Collage-Roman A Frolic of His Own (1995), deutscher Titel Letzte Instanz, handelt vom amerikanischen Rechtssystem und den Mechanismen seiner Interpretation. Das Gesetzt besteht aus Worten: Words, words, words. Thats what its all about und vor Gericht geht es um das Durchsetzen der eigenen Interpretation des Gesetzes. Dabei ist unerheblich, wer recht hat entscheidend ist, wer die Macht hat, seine Interpretation der Realität als Recht durchzusetzen.

Die Geschichte rankt sich um Oscar Crease, einen alternden College-Lehrer, der einen berühmten Hollywood-Regisseur verklagt, weil dieser sein anspruchsvolles und nie aufgeführtes Drama über den Bürgerkrieg benutzt haben soll, um damit einen reißerischen Blockbuster zu drehen. Natürlich ohne die philosophischen Reflexionen und dafür mit viel Blut, Sex und Gewalt. Aber auch alle anderen Figuren in diesem Buch sind in eine Unmenge von Prozessen verstrickt. Oscars Schwager etwa verteidigt den Pepsi-Konzern gegen eine Klage der Episcopal-Kirche, die behauptet, Pepsi-Cola sei ein offensichtliches Anagramm von Episcopal, das verwendet würde, um das Unterbewusstsein der Konsumenten positiv zu beeinflussen.

Einmal mehr variiert Gaddis sein großes Thema vom Verlust der Authentizität und der Zersplitterung der Welt. Wieder geht es um den Gegensatz und die Verschmelzung von echter Kunst und Fälschung, von Original und Plagiat in einer von ökonomischen und mechanisierten Zwängen bestimmten Welt. Wieder spiegelt sich die zerfallende, mittelpunktlose Welt in der Form der Erzählung. Gaddis Collage besteht fast nur aus Stimmen: Stimmen aus Radio und Fernsehen, Konversationen über Tod, Sex, Geld und Philosophie wechseln sich ab mit Geplauder über Tee und Essen. Dazwischengeschnitten: Zitate aus Briefen, Postwurfsendungen, Zeitungsberichten, seitenlange Vernehmungen, Urteile, Theaterstücke.

Unlesbar sei das, wetterte ein Kritiker über Gaddis Polylog-Romane, aber er irrt: Anstrengend natürlich, aber die absurd-komischen Situationen, der Dialogwitz belohnen die Mühe allemal. Gaddis betrachtet Einfachheit in Inhalt und Form als eine Beleidigung für den Leser. Auf die Bemerkung, sein Buch sei kompliziert, antwortet einer der Figuren in JR, ein Schriftsteller, voller Stolz: As difficult as i can make it. Aber Gaddis möchte die Leser nicht abschrecken, er möchte die unmittelbare Beziehung zwischen Autor und Leser, zwischen Leser und Geschichte intensivieren: Die gemeinsame Erkundung, ich meine, das sind noch Erlebnisse ... Bedeutung und Verständnis liegen nicht im Text, sie entstehen beim Lesen und variieren: Nicht nur der Autor, der Betrachter selbst wird sichtbar. Die wachsende Verzweiflung und der Wut der Charaktere, über die Unmöglichkeit dem Chaos eine Bedeutung abzuringen, erfasst auch den Leser beim Versuch dem Plot zu folgen, den Missverständnissen zu entgehen, aus dem Gaddisschen Sprach-Stakkato einen Sinn zu extrahieren.

Das Recht als Instrument der Gerechtigkeit entpuppt sich in Letzte(r) Instanz als Illusion, es wird nur noch benutzt, um dem entwürdigenden Chaos des Alltagslebens eine Ordnung aufzuzwingen oder vielmehr eine Ordnung daraus zu retten. Dieser Versuch muss misslingen: Unfähig anders als mit einer juristischen Klage auf eine außer Rand und Band geratenen Wirklichkeit zu reagieren, ist am Ende jeder der Charaktere allein gelassen und verstört, verzweifelt in einer orientierungslosen Welt. Was als Satire auf das Rechtssystem begann, endet als hoffnungslose Beschreibung einer tiefen spirituellen Leere:

Erneut klapperte hinten im Flur die Außentür, das obstinate Winseln eines Anlassers, das Husten des Motors, der Zorn der Krähen drunten auf dem unteren Rasen, wo sie auf das Gewoge der braunen Halme am Rande der Oberfläche des Teichs hinaussah, der von Kälte strotzte, die bis hier herauf ins Zimmer zu kriechen schien, um sie alle in einen frostigen Mantel des Schweigens zu hüllen, entnervt vom Geklapper all dessen, was vorangegangen und nun noch intensiver war in dieser hilflos einsamen Rückschau, wo ihre Worte kollidierten, karambolierten und von jenen verlorenen Grenzen der Verwirrung abprallten, Echo des Getöses von Kanadagänsen in windzerfransten Ketten vor dem nirgendwo kartographierten Himmelsgrau überm Teich, jeder Strang in dem Getümmel an seine eigene blinde Logik gebunden, ausgehend von irgendeiner unmittelbaren, gegen Folgen blind gewordenen Ursache, und die ganze Kette selbst zerrissen von den Winden der Fahrlässigkeit, die sie in ihre glücklose Bahn zwangen ...

Gaddis fünf Romane sind die überragenden Zeugnisse einer Suche nach dem, was Amerika im Herzen ausmacht. Der Schriftsteller spiegelt sich in seinen Figuren, die nach Bedeutung und Werten suchen, in einer Welt, die ihnen beides nicht dauerhaft enthüllen kann. Es trotzdem immer wieder zu probieren, darauf kommt es an. Der Kulturkritiker Leslie Fiedler nannte die beiden anderen Leuchttürme der amerikanischen Literatur, Nathaniel Hawthorne und Herman Melville tragische Humanisten, eine Bezeichnung, die auch auf Gaddis passt. Tragische Humanisten sind Schriftsteller, deren Aufgabe es ist Nein! zu sagen und die einfachen Grundsätze, nach denen die meisten Menschen leben, zu erschüttern. Sie erinnern an die Dunkelheit des Lebens, die die meisten Menschen so verzweifelt versuchen zu ignorieren. Für tragische Humanisten besteht die Funktion der Kunst nicht darin, Trost zu spenden oder zu konsolidieren; Literatur soll nicht zerstreuen, erst recht nicht unterhalten, sondern verunsichern durch das Enthüllen von Wahrheiten, die immer unwillkommen sind.

Aber was solls, man hat mich sowieso längst vergessen, meine Bücher stauben im Regal vor sich hin, neben all den anderen toten weißen Schriftstellern, heißt es in Gaddis letztem Buch. Und da hat er recht, aber das muss ja nicht so bleiben.Der beste Weg sich diesem (ge)wichtigen Autor zu nähern ist, ihn zu lesen. Gemessen an den Jahren, die Gaddis brauchte, um seine Bücher zu schreiben zwischen The Recognitions und JR lagen zwei Dekaden haben Sie dafür auch jede Menge Zeit.

William Gaddis (* 29. Dezember 1922 in New York; † 16. Dezember 1998 in East Hampton) ist ein US-amerikanischer Schriftsteller. Gaddis gilt als einer der wichtigsten amerikanischen Schriftsteller, dessen Erfolg sich aber erst spät einstellte. Nach dem High School Abschluss begann er 1941 ein Literaturstudium an der Harvard Universität, die er aber nach vier Jahren wegen schlechten Benehmens verlassen musste. Er arbeitete für die Zeitschrift The New Yorker und später als Dokumentarfilmer für die US Army. 1955 veröffentlichte er seinen ersten, mehr als tausend Seiten starken Roman The Recognitions (dt. "Die Fälschung der Welt#"), ein Werk, das in der amerikanischen Literatur vielleicht nur von Thomas Pynchons Gravity's Rainbow an Komplexität übertroffen wird. Als Inspirationsquelle diente ihm der Kunstfälscher Han van Meegeren. The Recognitions wurde von den Kritikern verrissen und vom Publikum weitgehend verschmäht, doch entwickelte sich um den Roman eine kleine Kultgemeinde. Erst 1975 erschien sein zweiter Roman JR, in dem ein elfjähriger Junge ein milliardenschweres Finanzimperium aufbaut. Der von Larry Hagman gespielte Bösewicht in der Fernsehserie Dallas wurde nach ihm benannt. Für JR erhielt Gaddis den National Book Award, der ihm 1994 für seinen vierten Roman A Frolic of his own (dt. "Letzte Instanz"), der das amerikanische Justizwesen zum Gegenstand hat, erneut zugesprochen wurde. (aus: Wikipedia)

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